Montag, 24. September 2018

Riksgränsen, Narvik (Tag 13)

Letzter Radfahrtag heute, denken wir jedenfalls. Als wir während des Frühstückens aufs Meer schauen, wird die Kulisse abgebaut. Erst die Berge, dann das Meer. Es bleibt eine Fensterscheibe an die ein wilder Hagelschauer geknallt wird.

Beim zweiten Kaffee ist die Kulisse wieder zurück, sogar mit einigen Flecken blauen Himmels. Nach Norden raus sieht es jedoch dunkel und düster aus, auch der Wind bläst stark. Wir wissen: kurz hinter dem Hotel verbindet eine lange und hohe Brücke Stokmarknes mit dem Rest der Vesterålen. Wir packen unser Kram, das sich verdächtig schnell über das Hotelzimmer ausgebreitet hat. Dann ziehen wir Lage um Lage an und beobachten alle zwei Minuten das Wetter. Was sich im etwa gleichen Tempo ändert. Dann fällt die Entscheidung. Wir werden uns heute nicht 30km gegen die Natur anstemmen, sondern bis nach Sortland mit dem Bus fahren.

Die Haltestelle ist auch gleich gegenüber vom Hotel und kurze Zeit später beladen wir das Gepäckabteil des Buses. L. macht sich große Sorgen. Im ersten Bus auf den Lofoten konnten wir die Räder einfach mit in der Gepäckabteil legen. Diesmal sollen sie an zwei Stangen relativ ungesichert hinten am Bus hängen. Nun gut, so ist es eben.

Wir steigen ein, L. sitzt verkrampft und kaum atmend auf seinem Sitz. Ich werde direkt von zwei älteren, deutschen Damen angesprochen. Es stellt sich heraus, dass sie in den letzten zwei Wochen ebenfalls die Lofoten bereist haben (zu Fuß und mit dem Bus) und uns immer mal wieder auf den Rädern entdeckt haben. Und sie dachten sich, wir könnten ja nur Deutsche sein, wer wäre sonst so verrückt im September über die Lofoten zu radeln?

Gut, ich dachte jetzt, dass Briten da Vorreiter, äh, Vorradler wären. Aber das mag auch nur daran liegen, dass ich vor kurzem "Mit dem Fahrrad aus der Kälte" von Tim Moore gelesen haben.

Kurze Zeit später steigen wir in Sortland aus dem Bus. Natürlich gatscht es wie verrückt, zusätzlich zu den Hagelkörnern und dem beißend-kalten Wind. Wir suchen die Autovermietung und fahren erstmal in die falsche Richtung. Danach ist das Glück uns hold. Wir können den Wagen schon früher haben, die Räder passen mit abmontierten Vorderrädern und umgeklappter Rücksitzbank rein und das beste: wir beladen in den fünf trockenen Minuten, in denen sich sogar die Sonne durch die tief hängende Wolkendecke kämpft.

Kurzer Stopp für ein Mittagessen auf die Hand. Dann beginnen wir unseren "Abstecher". Wir folgen der E10 weiter Richtung Osten, während draußen das Wetter dauernd zwischen schneehagelregensonnesturm wechselt. Die höheren Bergspitzen sind mit Schnee gepudert. Drei Stunden lang fahren wir immer Richtung Narvik und biegen dann ab. Kiruna und Lulea steht auf dem Verkehrsschild. Wir folgen der E10, das Thermometer zeigt fallende Temperaturen an, nach der ersten Steigungen, die etliche Höhenmeter mit sich bringt, ist es -1°C.









Wir fahren durch eine felsige, unwirkliche Landschaft. Kleine knorrige Birken versuchen sich auf fast nicht vorhandener Erdschicht zu halten, die überall liegenden Felsbrocken bieten nur widerwillig einigen sturen Moosen halt.

Verstreute Holzhütten (Sommerhütten?) liegen idyllisch an kleinen Seen, werden aber schon bald durch Schnee und Eis von der nur 100m entfernten Straße abgeschnitten sein. Ein Schild kommt in Sicht "Battle of Narvik 1940" - ich mag mir nicht vorstellen, wie hier vor fast 80 Jahren fast am Ende der Welt sinnlos gestorben wurde. Schon im Hurtigrutenmuseum hatten wir erfahren, dass die Schiffe während des Krieges torpediert wurden, der Küstenverkehr eingestellt bzw nur noch mit sehr kleinen Schiffen aufrecht erhalten wurde. Was dachten die Leute sich, die so fern von "Europa" plötzlich in einen Krieg gezogen wurden, weil Kriegsflotten aus Murmansk hier entlang zogen?

Wir fahren weiter und dann, hinter einer Kurve, vertrautes Gebiet. Zur Rechten die Lichter der Zollstation, zur Linken Schilder und ein großer Stein. Hier ist die Grenze nach Schweden. Da wir für den Mietwagen keine Grenzübertritte mitgebucht haben, parken wir auf norwegischer Seite und gehen zu Fuß weiter. Es schneit ein bißchen. Nur wenige hundert Meter nach der Zollstation biegt ein Weg links ein zu ein paar roten Holzhäusern. Wir sind zurück.

Nach fast zehn Monaten in denen so viel passiert ist, in denen sich das Leben schlagartig änderte, in denen Kummer, Leid und Freude schneller Achterbahn fuhren, als ich vertragen konnte. Als eine schlechte Nachricht die nächste jagte und selbst jetzt noch die Wogen sich kaum glätten, die Zukunft sehr unklar ist.

Trotzdem stehen wir wieder hier. An dem Ort, an dem wir soviel Ruhe fanden. Und nicht wussten, dass es die Ruhe vor dem Sturm war. Leider haben wir wenig Zeit, denn der Himmel zieht bedrohlich zu, es fängt an mehr zu schneien. Kurz suchen wir nach der verloren gegangenen Schaufel, dann gehen wir quer durchs Dorf, machen mit eisigen Händen ein paar Fotos vom noch nicht gefrorenen See und gehen zum Einkaufsladen.






Als wir dort 20 Minuten später wieder rauskommen, erwartet uns ein Schneesturm. Gut, das sind wir ja von Riksgränsen gewohnt. Wir ziehen die Kapuzen eng um den Kopf, schultern die Einkäufe und stemmen uns gegen Wind und Schnee zurück zur norwegischen Seite und unserem Auto.

Unserem Auto, dass noch Sommerreifen hat. Die Rückfahrt wird lang und langsam, aus der pudrigen Schicht Schnee sind sehr schnell 2-3cm Schnee geworden und je nach Höhenlage liegt die Temperatur zwischen -3°C und 1°C, dazu Gefälle von 9%. Sehr sehr vorsichtig manövriert L. den Wagen Meter um Meter über die rutschige Straße. Als wir an der Kreuzung zur E6 angekommen sind, atmen wir durch. 1°C, Regen. Kein Schnee mehr, nur noch nasse Straßen.

Irgendwann, die Lichter der Stadt. Zurück in Narvik, zurück im Gästehaus. Wir haben sogar fast die gleiche Zimmernummer, die Aussicht ist gleich, nur dass die Dächer nass blitzen, statt schneebedeckt zu sein. L. holt Pizza, wir essen müde und schlafen dann schnell ein.