Montag, 17. September 2018

Offersøykamen Wanderung (Tag 5)

Als erstes schlafen wir heute aus. Das Wetter ist sehr gemischt, es ziehen immer wieder Wolkenfelder durch. Aber noch hält es sich und die Regenwolken bleiben ein paar Hügelkämme westwärts hängen. Erfreut stellen wir fest, dass die Ebbe den Strand direkt vor unserem Haus freigelegt hat.
Also drehen wir eine kleine Runde, um zu fotografieren. Dabei entdecken wir jemanden, der sehr aufwändig mit Fotoplatten hantiert und sich für jedes Bild samt seiner Kamera unter einem Samttuch versteckt.

Klar, dass man da schnell ins Gespräch kommt. Nach den beiden Chemiestudenten aus Jena im Ramberg B&B treffen wir heute einen Wissenschaftler, der sich mit der Modellierung des grönländischen Eisschelfs und dessen menschenverschuldeter Frischwasserzufuhr beschäftigt. Machen hier nur Wissenschaftler im September Urlaub? Scheint jedenfalls, dass es schwieriger ist, als gedacht, aus seiner Filterblase zu entkommen.




Wir tauschen ein paar Erkenntnisse und Tipps über die Lofoten aus, dann geht jeder wieder seines Weges. Ich habe auch Hunger und so koche ich Reis zum Mittag. Da rühren wir später eine kleine Dose "smørbar tunfisk - meksikansk" rein. Lecker, praktisch, klein und für 50% der mitlesenden Mütter: mit genug Protein!

Das Wetter sieht ganz okay aus, es ist auch nicht unbedingt viel Regen angesagt, aber was heißt das schon? Jetzt nach dem Mittag jedenfalls ist es gut genug zum Wandern. Praktischerweise beginnt direkt neben unserem Haus ein "einfacher Wanderweg" auf den Offersøykamen, der eine fantastische Aussicht verspricht. Ich belasse es hier aus 100% Mütterfreundlichkeit bei der offiziellen Beschreibung von "einfach" und vor uns geht an diesem Tag auch ein norwegisches Paar samt Baby in einer Kraxe eben diesen Weg.
Ich sag's mal so: wer 427 Höhenmeter in 1000m Wegstrecke steckt, der muss sich bewusst sein, dass das kein lauer Sommernachtsspaziergang ist.

Wir wandern los, vor uns ist ein älteres Paar. Der Mann immer ein Stück voraus, die Frau samt geschickt benutzten Wanderstöcken etwas hinterher. Der Pfad beginnt direkt an der Straße und steigt recht steil an, dafür kann man den Weg nicht übersehen. Geröll, größere Steine und ein "treppenartiger" Aufgang erleichtern das Wandern. Es geht durch ein kleines Birkenwäldchen, an deren Wurzeln sich Blaubeeren und Preiselbeeren um das verbliebene Sonnenlicht streiten. Dazwischen etliche Pilze verschiedener Sorten. Wir steigen höher und höher, ich atme. Atmen ist ja so wichtig. Ich bleibe stehen, um zu atmen. Wann immer man ein paar Meter geschafft hat und sich umblickt, erstreckt sich mehr Aussicht. Erst unsere kleiner werdende Hütte, dann wird der ganze Hafenbereich immer kleiner, dafür reicht der Blick weit über das flache Tal.



Nach etwas über einem Drittel der Strecke erhascht man linker Hand den Blick auf einen wunderschön gelegenen Bergsee, zu dem ein schmaler Pfad abzweigt. Das wäre ein ganz wunderbarer Platz zum Zelten gewesen.

Ich schaue zurück und hoffe, dass ich den Rückweg auch packe. Von hier oben sieht es deutlich steiler aus. Aber vorerst geht es weiter zum Gipfel. Mein virtueller Zielpunkt ist immer der Mann vor mir, etwa 100m entfernt. Zweimal meine ich, dass es nicht mehr weit sein kann zum Gipfel. Zweimal täuscht der Blick von unten und es geht weiter hinauf. Ich atme. Ich bleibe stehen zum Atmen. Die Pausen werden häufiger, bald bleibe ich alle zehn Meter stehen. Ich schaue zurück und blicke auf eine Abbruchkante. Sind wir VON DORT gerade gekommen? Wie soll man dort jemals wieder zurück kommen?

Ich lasse den Blick lieber schnell über den Fjord und die umgebenden Gipfel schweifen. Dann geht es weiter, immer bergauf. Über dem Gipfel westlich von uns hängen Regenwolken. Noch hängen sie dort fest, der Gipfel entlässt sie nicht aus seinem schroffen Griff.



Dann endlich sehe ich den Mann vor mir sitzen und fotografieren. Auch die Frau mit den Wanderstöcken sitzt. Der Gipfel! Wir sind oben. Ein kurzer Blick auf die Nordseite bestätigt, was wir schon gelesen haben. Die Nordflanke des Offersøykamen fällt praktisch gerade ab. Besser, man hält ein paar Schritte Abstand. Um uns herum erstreckt sich ein unglaubliches Panorama. Im Nordosten sehen wir Haukland Beach, weit im Süden tief eingeschnittene Fjorde, deren Berge sich in immer weiteren Ketten auftürmen. Unter uns das Tal mit winzig kleinen Häuschen. Unbeschreiblich. Ich finde keine Worte, zu beschreiben, was ich sehe.








Vorsichtig stellt L. am höchsten Punkt das Stativ auf, um ein Panorama zu fotografieren. Ich unterhalte mich kurz mit der Frau. Sie kommen aus Conneticut und machen ebenfalls zum ersten Mal hier Urlaub. Wolken ziehen auf, Haukland Beach verschwindet im Nebel. Auch die Regenwolken im Westen scheinen sich plötzlich loszureißen und sich mit ihren aus Norden kommenden Freunden zu vereinigen. Hastig packen wir zusammen, für ein Foto von uns auf dem Gipfel reicht die Zeit nicht mehr, denn die ersten Wolkenfetzen erreichen uns und mühen sich redlich den Gipfel auf dem wir stehen in Nebel zu tauchen.


Die beiden Amerikaner sind ein paar Schritte vor uns, dann sollen doch wir vorgehen. Bevor wir vom Nebel verschluckt werden, sind wir schon ein paar Höhenmeter tiefer gekommen. Es beginnt heftig zu regnen und zu winden. Im Nu ist der Weg matschig und rutschig. Die Steine und Wurzeln bieten zwar Halt, aber drumherum weicht der kiesige Boden schnell auf. Ich rutsche aus, komme gleich wieder hoch.

Wir suchen sicheren Tritt, mit dem Schritt nach unten jedoch wird der Berg wieder unser Beschützer, denn er hält die Wolken und den Nebel hoch oben, während wir weiter unten nur im Regen wandern. An einer Stelle mit etwas mehr Platz lassen wir das andere Paar wieder vor und essen schnell einen Riegel. Kurz darauf stehen wir an der Kante, die mich vorhin beim Zurückblicken schon beunruhigt hat. Doch nun sieht man den schlängeligen Pfad wieder und auf allen Vieren sind die großen Stufen, die die Steine bilden auch gut zu meistern.

Später, viele Höhenmeter tiefer im Birkenwäldchen regnet uns jeder Baum, den wir zum Sichern fassen in den Nacken. Verspotten uns die kleinen Birken, die hier, so hoch im Norden eher Sträucher sind? Sie sind ja fest verwurzelt an den Bergflanken, während wir jeden Schritt sicher treten müssen.

Dann sind wir zurück und damit auch zurück im Haus. Der Regen legt sich. Wir verschnaufen kurz, ich verfluche meine wieder nassen Schuhe. Dann packen wir unser Abendbrot und den Campingkocher ein und ziehen uns fahrradtauglich um.

Als wir auf die Räder steigen, kommen auch die anderen beiden wieder unten an. Ich bin froh, sie zu sehen. Jeder hat es heil runter geschafft.

Wir schwingen uns auf die Sättel, bereit zum zweiten Teil unseres Tages. Es ist gegen 18:00 und wir fahren zum Haukland Beach, der nur ein paar Kilometer (und Höhenmeter) um den nächsten Berg herum liegt. Nur drei Fotostopps später, sind wir auch schon da. Gerade, als wir unsere Räder abstellen wollen, treffen wir den Vermieter unserer Hytte. Er empfiehlt uns, auf jeden Fall auch noch nach Uttakleiv zu fahren und erzählt, dass man dafür statt des Tunnels auch sehr gut den alten, flachen (!!!!!) Küstenweg nehmen kann. Wir fahren an Haukland also erstmal vorbei, nehmen aus Zeitgründen auf dem Hinweg den Tunnel und erreichen kurz darauf Uttakleiv. Ein beeindruckender Sand-Stein-Strand. Das Wetter ist hier hinter dem Berg etwas schlechter, über dem Meer weiter draußen regnet es. L. fotografiert (gemeinsam mit einigen anderen Fotografen), ich sitze und genieße einfach. Sandstrand, heranrauschende Wellen. Das Meer.






Dann nehmen wir besagte flache Küstenstraße. Dieser fahrzeugbreite Kiesstreifen war immerhin bis 1998 die offizielle Straße nach Uttakleiv. Dann wurde der Tunnel geöffnet und jetzt ist es eine wunderbare Spazierstraße direkt an der Küste entlang, zur Rechten flankiert von einem bedrohlich schroffen Berg. Von Uttakleiv geht es direkt hinter dem Schafgatter hügelig nach oben. Und wieder runter. Und wieder hoch. Nun gut, wenn obige Wanderung "einfach" ist, dann ist diese Straße für norwegische Verhältnisse wohl eben "flach". Erfinden Norweger ein neues Wort für "flach" - nur falls sie mal die norddeutsche Tiefebene erreichen? Wir radeln um den Berg herum. Direkt bis zu der Stelle, an dem der nächste Hügel mitten im Wasser herausragt. Dort halten wir an. Ein kleiner Strand liegt direkt vor uns, ein paar Meter weißer Sandstrand, eingerahmt von großen Findlingen. Es ist DER Platz. MEIN Platz - zumindest für dieses Abendessen. Niemand sonst ist hier.

Auf einem großen flachen Stein stellen wir den Kocher auf und machen uns Reis warm. Eine weitere Dose Thunfisch und schon sitzen wir im Dämmerlicht, lauschen den Wellen und schauen auf das Meer. Es ist hier ganz windstill und ruhig. Ein herrlicher Platz.



Im allerletzten Dämmerlicht fahren wir zurück nach Haukland und von dort aus in die Hytte. Es wird kühler, aber bevor mir richtig kalt wird, strampele ich schon wieder einen Berg hinauf. Das wärmt. Genauso wie eine heiße Schokolade vor dem Schlafengehen.