Also drehen wir eine kleine Runde, um zu fotografieren. Dabei entdecken wir jemanden, der sehr aufwändig mit Fotoplatten hantiert und sich für jedes Bild samt seiner Kamera unter einem Samttuch versteckt.
Klar, dass man da schnell ins Gespräch kommt. Nach den beiden Chemiestudenten aus Jena im Ramberg B&B treffen wir heute einen Wissenschaftler, der sich mit der Modellierung des grönländischen Eisschelfs und dessen menschenverschuldeter Frischwasserzufuhr beschäftigt. Machen hier nur Wissenschaftler im September Urlaub? Scheint jedenfalls, dass es schwieriger ist, als gedacht, aus seiner Filterblase zu entkommen.
Das Wetter sieht ganz okay aus, es ist auch nicht unbedingt viel Regen angesagt, aber was heißt das schon? Jetzt nach dem Mittag jedenfalls ist es gut genug zum Wandern. Praktischerweise beginnt direkt neben unserem Haus ein "einfacher Wanderweg" auf den Offersøykamen, der eine fantastische Aussicht verspricht. Ich belasse es hier aus 100% Mütterfreundlichkeit bei der offiziellen Beschreibung von "einfach" und vor uns geht an diesem Tag auch ein norwegisches Paar samt Baby in einer Kraxe eben diesen Weg.
Ich sag's mal so: wer 427 Höhenmeter in 1000m Wegstrecke steckt, der muss sich bewusst sein, dass das kein lauer Sommernachtsspaziergang ist.
Nach etwas über einem Drittel der Strecke erhascht man linker Hand den Blick auf einen wunderschön gelegenen Bergsee, zu dem ein schmaler Pfad abzweigt. Das wäre ein ganz wunderbarer Platz zum Zelten gewesen.
Ich lasse den Blick lieber schnell über den Fjord und die umgebenden Gipfel schweifen. Dann geht es weiter, immer bergauf. Über dem Gipfel westlich von uns hängen Regenwolken. Noch hängen sie dort fest, der Gipfel entlässt sie nicht aus seinem schroffen Griff.
Dann endlich sehe ich den Mann vor mir sitzen und fotografieren. Auch die Frau mit den Wanderstöcken sitzt. Der Gipfel! Wir sind oben. Ein kurzer Blick auf die Nordseite bestätigt, was wir schon gelesen haben. Die Nordflanke des Offersøykamen fällt praktisch gerade ab. Besser, man hält ein paar Schritte Abstand. Um uns herum erstreckt sich ein unglaubliches Panorama. Im Nordosten sehen wir Haukland Beach, weit im Süden tief eingeschnittene Fjorde, deren Berge sich in immer weiteren Ketten auftürmen. Unter uns das Tal mit winzig kleinen Häuschen. Unbeschreiblich. Ich finde keine Worte, zu beschreiben, was ich sehe.
Vorsichtig stellt L. am höchsten Punkt das Stativ auf, um ein Panorama zu fotografieren. Ich unterhalte mich kurz mit der Frau. Sie kommen aus Conneticut und machen ebenfalls zum ersten Mal hier Urlaub. Wolken ziehen auf, Haukland Beach verschwindet im Nebel. Auch die Regenwolken im Westen scheinen sich plötzlich loszureißen und sich mit ihren aus Norden kommenden Freunden zu vereinigen. Hastig packen wir zusammen, für ein Foto von uns auf dem Gipfel reicht die Zeit nicht mehr, denn die ersten Wolkenfetzen erreichen uns und mühen sich redlich den Gipfel auf dem wir stehen in Nebel zu tauchen.
Die beiden Amerikaner sind ein paar Schritte vor uns, dann sollen doch wir vorgehen. Bevor wir vom Nebel verschluckt werden, sind wir schon ein paar Höhenmeter tiefer gekommen. Es beginnt heftig zu regnen und zu winden. Im Nu ist der Weg matschig und rutschig. Die Steine und Wurzeln bieten zwar Halt, aber drumherum weicht der kiesige Boden schnell auf. Ich rutsche aus, komme gleich wieder hoch.
Wir suchen sicheren Tritt, mit dem Schritt nach unten jedoch wird der Berg wieder unser Beschützer, denn er hält die Wolken und den Nebel hoch oben, während wir weiter unten nur im Regen wandern. An einer Stelle mit etwas mehr Platz lassen wir das andere Paar wieder vor und essen schnell einen Riegel. Kurz darauf stehen wir an der Kante, die mich vorhin beim Zurückblicken schon beunruhigt hat. Doch nun sieht man den schlängeligen Pfad wieder und auf allen Vieren sind die großen Stufen, die die Steine bilden auch gut zu meistern.
Später, viele Höhenmeter tiefer im Birkenwäldchen regnet uns jeder Baum, den wir zum Sichern fassen in den Nacken. Verspotten uns die kleinen Birken, die hier, so hoch im Norden eher Sträucher sind? Sie sind ja fest verwurzelt an den Bergflanken, während wir jeden Schritt sicher treten müssen.
Dann sind wir zurück und damit auch zurück im Haus. Der Regen legt sich. Wir verschnaufen kurz, ich verfluche meine wieder nassen Schuhe. Dann packen wir unser Abendbrot und den Campingkocher ein und ziehen uns fahrradtauglich um.
Als wir auf die Räder steigen, kommen auch die anderen beiden wieder unten an. Ich bin froh, sie zu sehen. Jeder hat es heil runter geschafft.
Dann nehmen wir besagte flache Küstenstraße. Dieser fahrzeugbreite Kiesstreifen war immerhin bis 1998 die offizielle Straße nach Uttakleiv. Dann wurde der Tunnel geöffnet und jetzt ist es eine wunderbare Spazierstraße direkt an der Küste entlang, zur Rechten flankiert von einem bedrohlich schroffen Berg. Von Uttakleiv geht es direkt hinter dem Schafgatter hügelig nach oben. Und wieder runter. Und wieder hoch. Nun gut, wenn obige Wanderung "einfach" ist, dann ist diese Straße für norwegische Verhältnisse wohl eben "flach". Erfinden Norweger ein neues Wort für "flach" - nur falls sie mal die norddeutsche Tiefebene erreichen? Wir radeln um den Berg herum. Direkt bis zu der Stelle, an dem der nächste Hügel mitten im Wasser herausragt. Dort halten wir an. Ein kleiner Strand liegt direkt vor uns, ein paar Meter weißer Sandstrand, eingerahmt von großen Findlingen. Es ist DER Platz. MEIN Platz - zumindest für dieses Abendessen. Niemand sonst ist hier.
Auf einem großen flachen Stein stellen wir den Kocher auf und machen uns Reis warm. Eine weitere Dose Thunfisch und schon sitzen wir im Dämmerlicht, lauschen den Wellen und schauen auf das Meer. Es ist hier ganz windstill und ruhig. Ein herrlicher Platz.
Im allerletzten Dämmerlicht fahren wir zurück nach Haukland und von dort aus in die Hytte. Es wird kühler, aber bevor mir richtig kalt wird, strampele ich schon wieder einen Berg hinauf. Das wärmt. Genauso wie eine heiße Schokolade vor dem Schlafengehen.